Tausende Jahre sind vergangen. Die schwarz-rot-goldenen Banner des Heeres peitschen im Wind. Wieder steht der Held Arjuna – inkarniert als deutscher Krieger – entmutigt auf einem Schlachtfeld, als ihm der Gott Krishna erscheint. Diesmal an den östlichen und südlichen Grenzen des europäischen Reiches, an den Pforten zu Asien und Afrika.
Arjuna: Nun da uns, O Krishna, auf dem Schlachtfeld des Schicksals einmal mehr das Andere, das Fremde entgegenstiert, will ich meine Waffen niederlegen. Zuviel Blut ist bereits in diese Erde gesickert. Kein Zaun, keine Mauer, kein Meer wird es abwenden können: Einmal mehr wird das Fremde unsere Grenzen überschreiten. Mein Kampf soll deswegen ein anderer sein, ein geistiger. So will ich einen Essay schreiben, der den Fremden heißt, nach welchen Regeln, welcher Leikultur sie ihr Gebaren zu richten haben. Pamphlete werde ich damit bedrucken und sie im ganzen Reich verteilen.
Krishna: Obwohl du, O Feindbrenner, Gutes im Schilde führst, zweifele ich an deinen Absichten. Einst erkannte ein Weiser nicht nur, dass die ganze Welt ein einzig Dorf zu sein scheint, sondern auch, dass das Medium die Botschaft ist. Es geht nicht nur darum, was wir über die Lippen bringen, sondern auch wie. Und der Essay ist nun einmal eine Erfindung eines männlichen, adeligen Abendländers. Da beginnt das Problem jener Leitkultur, die du im Munde führst. Seit jeher will Europa nicht nur das was, nein, auch das wie will es gebieten. Ein Blick auf die Weltkarte genügt, um zu erkennen: Europa denkt sich seit Anbeginn als Dorfplatz des global village.
Arjuna: Wenn also nicht ein Essay, auf welchen Pfad, O Unerschütterlicher, soll ich dann schreiten?
Krishna: Wenn du dem Fremden begegnest und es nicht vermagst, es zu befehden, O Bändiger der Feinde, dann bleibt dir nichts als der Dialog. In den Schriften des Milindapañhā oder der Bhgavadgῑtā findest du ihn. Aber auch bei Platon, der doch angeblich einer der Väter deiner Leitkultur ist. Vergesse auch nicht all die Dialoge, deren Worte niemals den Weg zum Papier gefunden haben. Dia steht nicht für zwei. Vielmehr bedeutet es ein durch, ein hindurch. Im Zwiegespräch suchst du mit dem anderen einen Weg durch die zwischen euch gemörtelte Mauer, hin zum Gemeinsamen, zum Neuen. Wie willst du, Kuntisohn, das vollbringen, wenn du dich über den anderen stellst?
Arjuna: Und doch gibt es zumeist jemanden, der die Unterredung leitet. Der die Regeln des Gesprächs setzt. Das Thema. Nicht anders soll es sich mit der Leitkultur verhalten, die mir im Sinne steht. Habe ich denn kein recht darauf? Ist das denn nicht meine Heimat, O Herdenerbeuter?
Krishna: So mag es sein. Doch warum gehst du davon aus, dass der Fremde sich nicht auch nach den gleichen Gepflogenheiten richtet? Haben wir Menschen denn nicht alle, die wir hier in diesem globalen Dorf leben, ähnliche Sitten und Bräuche? Gibt es nicht eine Art Weltethos? Und wenn, ist es zumeist nicht das Individuum, das damit bricht? Mir aber scheint es, du, Arjuna, würdest die Schwalbe mit dem Schwarm verwechseln.
Arjuna: Da magst du recht haben, O Schönhaariger. Und doch gibt es auch Unterschiede. Kulturelle Eigenheiten.
Krishna: Auch du, Bester der Bharater, magst recht haben. Nur denke ich, messen sich die Unterschiede und Eigenheiten zunehmend am Einzelnen, nicht an der Sippschaft. So frage ich dich, was soll die Leitkultur deiner Anhänger denn sein? Sind es eure Nationalgladiatoren? Das Reinheitsgebot eures Gärsaftes? Euer Minnesänger Goethe?
Arjuna: Ja, O Madhava, auch Goethe ist es.
Krishna: Goethe, dessen wichtigste Poemsammlung „West-östlicher Divan“ es ohne den muslimisch-persischen Dichter Hafis nicht gegeben hätte? Was ist mit demjenigen, der von deinem Goethe noch nie gehört hat? Oder derjenigen, die ihn niemals lieben lernte? Gehören sie deiner Leitkultur nicht an? Die Tage der einfachen Identitäten sind gezählt. Unser Ich ist ein geflickter Gebetsteppich. Ich ist viele. Weder gibt es den einen Arjuna noch das eine Deutschland. Es gibt die Deutschländer.
Arjuna: Doch selbst in diesen Deutschländern gibt es etwas, dass uns, O Madhu-Vernichter, zu einem deutschen Volke eint. Etwa Aufklärung und Demokratie. Dies sind zwei der Hauptpfeiler, auf der ich unsere Leikultur zu erbauen denke.
Krishna: Hätte es diese Aufklärung jemals gegeben ohne Ibn Rushd und seinesgleichen, welche die Lehren eurer geistigen Vorväter, den antiken Griechen, weitergelebt, -gedacht und -gegeben hätten? Euren Philosophen, die auch aus Kleinasien stammten und dort lebten. Wurde Demokratie nicht, indessen euch es entfallen war, in den Hütten Afrikas praktiziert? Wurden eure Verfassungen nicht auf Papier geschrieben, welches es ohne die Erfindungen in Bagdad des neunten Jahrhunderts und später nicht gegeben hätte? Gibt es überhaupt die eine Demokratie? Die eine Aufklärung? So sprich doch Bharata! Ich komme nicht umhin, zu glauben, dass wir alle unser eigenes Verständnis davon haben. Dass wir und alles um uns herum Geschichte ist. Unsere von uns selbst fabulierte Geschichte. Und sogar diese eigenartigen Geschichten sind gezeichnet von Brüchen. Deshalb gibt es die Demokratie nicht. So wie es auch niemals die Kultur gibt. Geschweige denn die Leitkultur.
Arjuna: Bist du, Sproß des Vrishni, wirklich des Glaubens, es gäbe unter meinem Volk keine gemeinsame Kultur, die sich von anderen sondert?
Krishna: Wie sagt dein Goethe: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust.“ Vielleicht mag es da etwas geben. Etwas Unsagbares. Doch zum einen ist es, wie ich es dir vor Augen geführt habe, niemals unabhängig von dem vermeintlich Fremden. Zum anderen ist es nur ein Querschnitt durch die einzelnen, vielschichtigen Seelen. Schließlich wäre ich vorsichtig, über etwas zu sprechen, von dem man nicht einmal wirklich weiß, was es ist. Manchmal ist nicht nur das Medium die Botschaft: auch die Rhetorik ist es. Damit sei gesagt, es geht oft weder um das was noch das wie, sondern um das warum. Um das wann. Um das wer. Aber gebe Acht, Arjuna! Worte sind Symbole, und Symbole haben mehr Macht als Schwerter. Sie sind wie Geister. Wir beschwören sie herauf, können sie später jedoch nicht mehr bändigen.
Arjuna: Wie aber soll ich handeln, O Langhaariger? Soll ich die Barbaren tun und walten lassen, wie sie wollen?
Krishna: Sei unbesorgt, O Bhratarstier. Zunächst einmal sind in den Gesetztafeln die Richtlinien des Zusammenlebens gemeißelt. Zudem wurde niemand bekehrt, indem man ihn oder sie fügig machte. Du musst deine eigenen Ideale vorleben. Laut werden die Menschen, wenn sie den anderen verlautbaren, wie sie sich zu betragen haben, leise, wenn sie selbst an der Reihe sind. Viele deiner Leute lassen sich nicht von ihrer eigenen Kultur leiten. Wie pluralistisch, wie demokratisch, wie aufgeklärt sind deine Reichsbürger? Deswegen: Wenn du auf das Fremde triffst, begegne ihm im Dialog. Sei offen für seine Andersheit, denn auch Ich ist ein anderer.
Arjuna: Selbst, wenn ich dem Anderen in einem Dialog gegenübertrete, O Erhalter aller Menschen, begleiten mich kulturelle Vorurteile. Diese, also meine, Sicht der Dinge ist nichts als meine Leitkultur. Ich kann nicht von nirgendwo blicken.
Krishna: Wie wahr. So lange das Vorurteil auch wahrhaftig ein Vorurteil ist, ein vorläufiges Urteil, nicht das endgültige, so lange dein kultureller Horizont mit dem des Anderen verschmelzen kann, um so einen neuen zu schaffen, so lange lebst du den Dialog. Und doch sagt mir meine innere Stimme, dass deine Leitkultur absolute, unanfechtbare Werte festsetzt. Als wäre sie ein Kind der Angst. Angst sich selbst zu verlieren. Du aber, Kurusohn, lerne zu sterben – denn nur wenn du Nichts bist, bist du Alles und Alle. So sollst du alles in Frage stellen, gar was dich im Innersten zusammenhält. Dabei hilft dir das Andere, denn es ist die Frage in Gestalt.
Arjuna: Ich aber, Oberster der Menschen, hege keinen Zweifel, dass meine Werte die edelsten sind.
Krishna: Sind deine Werte, Prithasohn, wirklich die erhabensten, so werden sie im Dialog auch den Anderen bekehren. Alsdann werden deine Werte selbst durch diese Bewährungsprobe erstarkt hervorgehen. Sind sie es aber nicht, wirst du überzeugt. Oder es entsteht gar vollkommen Neues. Kultur stammt von cultura, dem Ackerbau. Um jede Jahreszeit muss er gepflügt werden, damit Neues wächst. So habe es auch mit deiner Kultur. Hat uns das Fremden nicht bereits etwas gelehrt? Seiten an uns bekundet, von denen wir dachten, wir hätten sie schon längst begraben? Verstehe, auch die Tradition des Lotusfußes war einst fester Kulturbestandteil des Landes der Morgenröte. Erst durch den Einfluss des Abendlandes verlor das Schönheitsideal des Fußzehenbrechens- und abbindens seine moralische Legitimation im Reich der Mitte.
Arjuna: Also soll ich mich, O Feindtöter, von der Idee der Leitkultur abwenden?
Krishna: Vielleicht nicht ganz. Lasse deine Leitkultur die Kultur des Dialogs sein. Sei offen für anderes, O Großarmiger, ohne dich dabei selbst zu leugnen. Auch wenn du nicht alles verstehst. Manches wird dir auf ewig fremd bleiben. Eben das ist die Natur des Fremden. Vergiss desgleichen niemals, dass es die eine Kultur nicht gibt. Und dass wir uns alle selbst fremd sind. Dass wir alle Geflüchtete sind. Geflüchtete vor uns selbst. Am Ende des Tages ist somit die Frage, wie wir mit dem Fremden umgehen, auch die Frage, wie wir uns gegenüber unsereiner verhalten. Nun: Konntest du dich von deinen Wirrungen lösen?